WM-Therapie

Tante Ulrike nahm Spielen furchtbar ernst. Nicht Fußballspiele, sondern Gesellschaftsspiele. Mit ihnen wurden sogar die Freunde ihrer Tochter getestet, wieweit sie Karriere machen könnten. Endstufe Schwiegersohn etwa. Wer nicht spielen konnte, also auch verlieren, fiel durch. Vergleiche ich Tante Ulrike jedoch mit den gegenwärtigen WM-Fans - dann war Tante Gretel noch harmlos. Denn WM ist nicht nur furchtbarer Ernst, WM kann tragisch werden. Viele brauchen bereits Psychotherapie. Am 8. Juni-drei Tage vor unserem Spiel gegen Paraguay - fiel mir die erste Meldung in die Hand und auf die Seele: „Fußball-Fans leiden unter Angstattacken und Versagensängsten-Psychotherapeuten bieten Kurzzeittherapien an". Tragisch, nicht? Bereits vor dem Achtelfinale wandten sich Hilfesuchende an Kollegen, weil sie nicht mehr schlafen, nicht mehr essen, nicht mehr gesund verdauen können, Angstpatienten wurden: Versagensängste. Während Rudi Völlers Jungs sich drei Tage vor dem Achtelfinale noch in Miyazaki langweilten - da brachen hier bei uns in Deutschland schon die Angstattacken aus, die Phobien, die Panikzustände und Versagensängste. Wir könnten es nicht schaffen...Sprunghaft stieg dann die Zahl derer, die Hilfe suchten, kurz vor dem Viertelfinale gegen die USA. Wir haben eben doch ein Gesundheitswesen, das besser ist als sein ramponierter Ruf. Wer hat das schon in Brasilien oder Korea: Fußball-Therapieangebote für uns, die wir krank werden müssen bei all der Aufregung in unserem Fernseher. Das ist echter Fortschritt, diese bisher sträflich vernachlässigten Gesundheitsschädigungen durch das Fern-Miterleben der WM aufgefangen zu wissen. Jetzt, nach dem Viertelfinale, sprang nochmal alles in die Höhe um mich herum: Ich meine die Zahlen derer sprangen, welche Therapien brauchen gegen ihre Ängste, aktuell die vor dem Halbfinale gegen Südkorea. Endspiel? Dieses wäre die Überschreitung jeglicher Belastungsgrenze. Dann müssen kollektive Kriseninterventionen her. Vor deinem WM-Finale müssten wir konventionelle Klinikstationen räumen und zu Intensivstationen für die WM - Angstpatienten machen müssen. Die Wartezimmer unserer frei niedergelassenen Ärzte und Therapeuten werden Notfallambulanzen, in denen keiner warten muss. Peter Handkes Buch „Die Angst des Torwarts beim Elfmeter" gab schon einen Einblick in Fußball-Ängste. Aber Torwärter können ihre Angst noch in Aktivität umgestalten. Wir hingegen sind unserer Angst ausgeliefert am Fernseher. Deshalb jetzt die WM-Internet-Kurzzeittherapieangebote (wer's braucht: www.panikattacken.at). Tante Ulrike hatte übrigens neben dem Eisschrank das Gebet eines Kirchenvaters hängen, das die Bitte an Gott formulierte, er möge die Kraft zur Unterscheidung senden, was klein, was groß sei, was wichtig und unwichtig. Das hing da, um sich nicht zu sehr aufzuregen, wenn was im Eisschrank vergammelt war. Manchmal mahnte ihr Mann, mein Onkel, dass sie bitte das Spielen nicht zu ernst nehmen möge. Aber Tante Ulrike verstand auch nur was vom Ernst der Gesellschaftsspiele. Nichts von WM.

25. Juni 2002